Der andere Blick
Die Camera obscura als Zeichenkamera Die Funktionsweise der Camera obscura wurde schon im 10. Jahrhundert durch den arabischen Physiker Ibn al Haitham dokumentiert. Im 13. Jahrhundert benutzten Roger Bacon, John Peckham und Guillaume de Saint-Cloud die Guckloch-Camera obscura zur Beobachtung von Sonnenfinsternissen.Das Prinzip ist einfach: wenn durch ein kleines Loch Licht in einen völlig abgedunkelten Raum fällt, werden die Konturen der Außenwelt auf der gegenüberliegenden Wand auf den Kopf gestellt und spiegelbildlich verkehrt abgebildet.Giovanni Battista della Porta beschrieb die Camera obscura 1558 ausführlich in seinem Buch „Magia naturalis“. Von ihm stammt die Idee, in die Öffnung eine Sammellinse zu setzen, um die Bildqualität zu steigern. Er empfahl sie den Künstlern als Malhilfe, also als Zeichenkamera. Tragbare, mit Linsen, Umkehrspiegel und abgedunkelter Mattscheibe versehene Zeichenkameras konstruierten im späten 17. Jahrhundert F. Risner und A. Kirchner. Die nun handliche Zeichenkamera, auf deren Mattscheibe transparente Papiere aufgelegt und Konturen durchgepaust werden konnten, fand im 18. Jahrhundert weite Verbreitung. Mit ihrer Hilfe fertigte man Silhouettenportraits und perspektivische Veduten. Canaletto und F. Guardi bedienten sich derartiger Zeichenkameras zur Konzeption ihrer Städtebilder. Der Einfluss der Zeichenkamera auf Künstler in dieser Zeit ist unübersehbar, durch die Erfindung der Fotografie verlor sie jedoch als Instrument des Abbildens ihre Bedeutung. Verlangsamung des Sehprozesses Die Erfindung der Fotografie hat in der heutigen Zeit zu einer weltumspannenden Bilderflut geführt, wir werden tagtäglich mit Bildern überschwemmt. Hier kann die Zeichenkamera eine ganz eigene Funktion übernehmen, für die sie ursprünglich sicher nicht gedacht war. Sie ermöglicht zunächst die selbständige Aneignung von visuellen Eindrücken, sie bietet eine Verbindung von Sehen und Zeichnen, sie ist ein praktisches Hilfsmittel zum Skizzieren. Ihre Stärken liegen in ihrer Handlichkeit. Sie ermöglicht, ohne Gesichtsverlust zu zeichnen, man kann nicht scheitern, man muss nicht begabt sein. Wer sehen und schreiben kann, kann auch zeichnen. Die Zeichenkamera kann ebenso zur Suche nach bestimmten Bildausschnitten verwendet werden. Mit ihr kann durch Wahl ganz bestimmter optischer Reize die Beobachtung geschult werden, indem man Teilaspekte der Bilderwelt bewusst auswählt: Glanzlichter, dunkle Stellen, bestimmte Farben, Formen oder Strukturen. Auf diese Art und Weise bietet sie die Möglichkeit, optische Eindrücke schrittweise zu erarbeiten, sie funktioniert als intensive Schule des Sehens und Entdeckens. Mit ihrer Hilfe entstandene Skizzen zeigen unterschiedliche Abbildungen eines projizierten Umraumes auf einer zweidimensionalen Zeichenebene. Das aufrechte, aber seitenverkehrte Bild lenkt den Blick in eine andere Dimension, Schärfe und Unschärfe setzen einen Filter zwischen Beobachter und Objekt. Die Zeichenkamera funktioniert gleichsam wie ein Übersetzer eines Wahrnehmungserlebnisses und führt den Betrachter in eine tiefere Wahrnehmungsebene. Sie verhilft zum Sehen in Zeitlupe. Das langsame Suchen und Nachzeichnen von ausgewählten Bildteilen macht den Sehvorgang rückholbar, kommunizierbar, variierbar und vergleichbar. Sie funktioniert wie eine Taucherglocke, die das Auge aus dem Alltag entführt und eine Interaktion zwischen Betrachter und Objekt auslöst. Sie setzt die Wirklichkeit in einen Rahmen und fokussiert den Blick. Das Licht, das durch das Objektiv der Zeichenkamera auf einen Spiegel trifft und schließlich auf der Mattscheibe ein seitenverkehrtes Bild erzeugt, fordert auf zu einem Dialog mit dem sichtbaren Ausschnitt der Wirklichkeit.Die Zeichenkamera führt so zu einem intensiven und bewussten Sehen. Georg Vith |