Der andere Blick Georg Vith, Shinjo Ito, Museo Nationale Alinari della Fotografia, Florenz, 2008
Die Camera obscura als Zeichenkamera Die Funktionsweise der
Camera obscura wurde schon im 10. Jahrhundert durch den arabischen
Physiker Ibn al Haitham dokumentiert. Im 13. Jahrhundert benutzten Roger
Bacon, John Peckham und Guillaume de Saint-Cloud die Guckloch-Camera
obscura zur Beobachtung von Sonnenfinsternissen. Das Prinzip ist
einfach: wenn durch ein kleines Loch Licht in einen völlig abgedunkelten
Raum fällt, werden die Konturen der Außenwelt auf der
gegenüberliegenden Wand auf den Kopf gestellt und spiegelbildlich
verkehrt abgebildet. Giovanni Battista della Porta beschrieb die Camera
obscura 1558 ausführlich in seinem Buch „Magia naturalis“. Von ihm
stammt die Idee, in die Öffnung eine Sammellinse zu setzen, um die
Bildqualität zu steigern. Er empfahl sie den Künstlern als Malhilfe,
also als Zeichenkamera. Tragbare, mit Linsen, Umkehrspiegel und
abgedunkelter Mattscheibe versehene Zeichenkameras konstruierten im
späten 17. Jahrhundert F. Risner und A. Kirchner. Die nun handliche
Zeichenkamera, auf deren Mattscheibe transparente Papiere aufgelegt und
Konturen durchgepaust werden konnten, fand im 18. Jahrhundert weite
Verbreitung. Mit ihrer Hilfe fertigte man Silhouettenportraits und
perspektivische Veduten. Canaletto und F. Guardi bedienten sich
derartiger Zeichenkameras zur Konzeption ihrer Städtebilder. Der
Einfluss der Zeichenkamera auf Künstler in dieser Zeit ist unübersehbar,
durch die Erfindung der Fotografie verlor sie jedoch als Instrument des
Abbildens ihre Bedeutung.
Verlangsamung des Sehprozesses Die
Erfindung der Fotografie hat in der heutigen Zeit zu einer
weltumspannenden Bilderflut geführt, wir werden tagtäglich mit Bildern
überschwemmt. Hier kann die Zeichenkamera eine ganz eigene Funktion
übernehmen, für die sie ursprünglich sicher nicht gedacht war.
Sie
ermöglicht zunächst die selbständige Aneignung von visuellen
Eindrücken, sie bietet eine Verbindung von Sehen und Zeichnen, sie ist
ein praktisches Hilfsmittel zum Skizzieren. Ihre Stärken liegen in ihrer
Handlichkeit. Sie ermöglicht, ohne Gesichtsverlust zu zeichnen, man
kann nicht scheitern, man muss nicht begabt sein. Wer sehen und
schreiben kann, kann auch zeichnen.
Die Zeichenkamera kann
ebenso zur Suche nach bestimmten Bildausschnitten verwendet werden. Mit
ihr kann durch Wahl ganz bestimmter optischer Reize die Beobachtung
geschult werden, indem man Teilaspekte der Bilderwelt bewusst auswählt:
Glanzlichter, dunkle Stellen, bestimmte Farben, Formen oder Strukturen.
Auf diese Art und Weise bietet sie die Möglichkeit, optische Eindrücke
schrittweise zu erarbeiten, sie funktioniert als intensive Schule des
Sehens und Entdeckens. Mit ihrer Hilfe entstandene Skizzen zeigen
unterschiedliche Abbildungen eines projizierten Umraumes auf einer
zweidimensionalen Zeichenebene. Das aufrechte, aber seitenverkehrte Bild
lenkt den Blick in eine andere Dimension, Schärfe und Unschärfe setzen
einen Filter zwischen Beobachter und Objekt. Die Zeichenkamera
funktioniert gleichsam wie ein Übersetzer eines Wahrnehmungserlebnisses
und führt den Betrachter in eine tiefere Wahrnehmungsebene. Sie verhilft
zum Sehen in Zeitlupe. Das langsame Suchen und Nachzeichnen von
ausgewählten Bildteilen macht den Sehvorgang rückholbar, kommunizierbar,
variierbar und vergleichbar. Sie funktioniert wie eine Taucherglocke,
die das Auge aus dem Alltag entführt und eine Interaktion zwischen
Betrachter und Objekt auslöst. Sie setzt die Wirklichkeit in einen
Rahmen und fokussiert den Blick. Das Licht, das durch das Objektiv der
Zeichenkamera auf einen Spiegel trifft und schließlich auf der
Mattscheibe ein seitenverkehrtes Bild erzeugt, fordert auf zu einem
Dialog mit dem sichtbaren Ausschnitt der Wirklichkeit. Die
Zeichenkamera führt so zu einem intensiven und bewussten Sehen.